Erkältungsbonus

Die Singstunde absagen, weil es im Hals kratzt und die Nase läuft? Keinesfalls, mindestens nicht solange ich es zu Fuss ins Studio schaffe. Nach den auf den Gesundheitszustand abgestimmten Übungen zum Einsingen meldete sich die Stimme bisher meistens wieder zurück.

Gestern kam eine neue Erfahrung dazu, eine ungewohnte Lockerheit beim Singen. Die tiefen Töne kommen gut, fand die Singlehrerin, also wählen wir doch Songs, bei denen es tief hinunter geht. Tatsächlich waren zuvor die besonders stark nasal gesungenen Intervall-Übungen die Tonleiter hinauf und wieder hinunter problemlos gelungen.

Body And Soul wird angesichts der bei Erkältungen meist etwas bedeckten Stimmung wohl gerade passen. Ausserdem zieht die Melodie im B-Teil so richtig in den Keller; das G bei «Romance» ist eine echte Herausforderung. Ich möchte halt das Lied in der Tonart singen, wie ich es auch mit dem Kontrabass im Trio spiele.

Schon nach den ersten Takten tauchte ich, getragen von der Melodie des Playbacks, völlig in die Geschichte ein und spürte den Schmerz des verlassenen Liebenden. Die richtigen Töne und die für diesen Song besonderen Phrasierungen schienen von allein zu kommen, auch das tiefe G glaubte ich erwischt zu haben. Also sang ich das Lied ein zweites Mal und wagte im dritten Durchgang zu improvisieren. Ein intensives Erlebnis.

Auch die Singlehrerin schien zufrieden zu sein. Das war aus ihren Gesten und Kommentaren zu schliessen. Ich müsse nun genau dieses Gefühl der Lockerheit abspeichern, das sich besonders dann einstelle, wenn man erkältet sei und deshalb keine grosse Erwartungen an sich selber habe. Es brauche eine Grundspannung und Konzentration, zweifellos, aber gleichzeitig sollte die Interpretation des Liedes so locker bleiben, als würde man wie nebenbei eine Geschichte erzählen. Völlig gesund und mit Energie geladen, gelinge das nicht so leicht.

Kann ich dieses Gefühl aktivieren, wenn ich wieder ganz gesund bin, werde ich Erkältungen künftig mit grösserer Demut ertragen.